Warum Japan noch CDs kauft

In Shibuya steht an der Bahnstrecke ein Gebäude, in dem auf acht Stockwerken etwas verkauft wird, das in großen Teilen der Welt vollkommen aus der Mode geraten ist: CDs.

Tower Records, ursprünglich aus Amerika stammend, in Japan aber seit 2002 in japanischem Besitz, besteht an diesem Ort seit 1981. In ganz Japan gibt es etwa 70 Läden. Ein Besuch letztens weckte meine Neugierde: Wie kann das in Zeiten von Spotify und YouTube überhaupt funktionieren?

Die erste Frage lautete natürlich, ob es denn wirklich so einen großen Unterschied zwischen dem CD-Absatz in Deutschland und Japan gibt. Wenn das Geschehen in Japan und Deutschland gleich wäre, könnte ich mir den halben Artikel sparen. Die Unterschiede sind tatsächlich aber noch größer, als ich es erwartet hatte.

Zwar gibt es seit Anfang der 2000er Jahre weit verfügbare legale Downloads, aber in Deutschland wurden 2015 noch etwa 84,6 Millionen CDs verkauft. In Japan waren es mit 167,8 Millionen etwa doppelt so viele.

Und dann wird es spannend: In Deutschland geht der Absatz seit 2015 stetik stark zurück. 2023 gingen in Deutschland mit 16,5 Millionen nur noch etwa ein Fünftel so viele CDs über die Ladentheken wie acht Jahre zuvor. Währenddessen kauften japanische Musikfans letztes Jahr 104,5 Millionen CDs. Das sind mehr als sechsmal so viele wie in Deutschland. Zwar hat auch die japanische Musikindustrie einen Rückgang von knapp 38% im Vergleich zu 2015 verzeichnen müssen, aber seit 2020 sind die Zahlen großteils stabil.

Warum ist das so? Kaufen Japaner weniger digitale Musik? Ganz im Gegenteil: Während der durchschnittliche Deutsche pro Jahr nur etwa 50 Cent für digitale Musikdownloads ausgibt, sind es in Japan umgerechnet etwa 4,80€.

Haben die Japaner das Streamen noch nicht für sich entdeckt? Dagegen spricht der Umsatz von Streaminganbietern: Zuletzt waren das etwa 1,4 Milliarden Euro.

Ich glaube, dass wie so oft die japanischen Fans den Markt retten. 90% der verkauften CDs entfielen 2024 auf japanische Musiker. Deren Vertriebe wissen natürlich genau, was die japanische Fangemeinde ihre Portemonaies zücken lässt.

Was einem in einem CD-Laden schnell auffällt, sind die vielen verschiedenen Versionen von Alben. Da gibt es dann eine Version mit extra DVD oder Blu-ray, ein Version mit Fotobuch, eine Version mit anderen Goodies, verschiedene Versionen mit extra Liedern, … Fans kaufen ein Album also nicht nur einmal, sondern meist in verschiedenen Ausführungen. Einfach der Vollständigkeit halber.

Außerdem haben die verschiedenen CD-Händler teils verschiedene Goodies, wenn man das Album bei ihnen kauft. Bei Yonezu Kenshis letztem Album gab es bei sechs verschiedenen Ladenketten beim Kauf des Albums je eine andere Klarsichthülle dazu. Die Live-DVD von King Gnu gab es mit Magnetclip, Aufkleber, Handspiegel, Schlüsselanhänger, Pinabzeichen, Tragetasche, Plektrum oder einem kleinen Anhängebeutel. Um alle zu bekommen, müsste man die DVD achtmal kaufen – und eine limitierte Deluxe-Version mit Fotobuch und einer speziellen Box gab es natürlich auch.

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Es gibt noch einen weiteren Anreiz für Fans, viele CDs zu kaufen: Lotterielose. Vielen CDs liegen Lose für die Ticketlotterie oder für Events, bei denen man die Künstler treffen kann, bei. Je mehr Lose man hat, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit eines Gewinns. Es ist daher nicht allzu ungewöhnlich, dass Superfans 20 oder mehr CDs kaufen.

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Aber sind nicht alles Praktiken nah an der Wegelagerei, es gibt auch schöne Gründe für CDs und für CD-Läden. Zum einen sind es die wunderschön gestalteten CD-Verpackungen, tolle Booklets und Extras, die man bei einem Download oder einem Stream nicht bekommen würde. Ich kaufe CDs eigentlich nur noch, wenn es mehr als “nur” die Musik gibt – meist sind das Blu-rays (die Alben kosten dann natürlich mehr).

Viele wissen inzwischen auch, dass Streaming sich für die meisten Künstler nicht lohnt. Pro Stream bei Spotify bekommt ein Künstler in Deutschland 0,00286€. Selbst bei einem Album mit 20 Liedern sind das nicht einmal 6 Cent. Selbst bei einer CD verdient sich der Künstler natürlich nicht so viel, wie der Endverbraucher zahlt, aber es bleibt doch mehr hängen. Ein großer Teil der japanischen Fankultur besteht darauf, dass man “seinen” Star unterstützen möchte, und das funktioniert neben Konzerttickets (da wären wir dann wieder bei den Lotterien) am besten mit CDs.

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Und letztendlich sind CD-Läden als Institution einfach auch schön. In vielen Regalen stehen von den Mitarbeitern handgeschriebene Rezensionen. Im großen Tower Records in Shibuya gibt es mit Fotoecken und Ausstellungen von Fotos, Kleidung und anderen Artefakten physische Räume, um dem Fan-Dasein zu frönen. In Zeiten des Internets kann man natürlich auch online mit anderen Fans reden, aber ich merke, wie mir der reale Raum in den letzten Jahren immer wichtiger geworden ist. Vielleicht, weil wir alle einsam durch Corona mussten. Vielleicht, weil ich viel allein von zuhause arbeite. Aber ich hoffe, dass es CD-Läden noch lange geben wird.

Veröffentlicht in: Musik

2 Gedanken zu „Warum Japan noch CDs kauft

  1. Holger Drechsler sagt:

    Der Mensch bleibt Sammler und Jäger. Derr Vollständigkeit halber etwas zu kaufen ist jedoch ein mir sehr vertrautes Phänomen der Neuzeit.

  2. Irene sagt:

    Ich kaufe CDs, Bücher, DVDs, weil ich das Gekaufte auch wirklich besitzen möchte, bei Bedarf kann ich es auch weitergeben.
    Streaming ist ja doch eher Leasing, und wenn der Computer die Grätsche macht, ist alles weg, wurde mir gesagt (weiss aber nicht, ob das noch immer so ist).

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