Am 10. Juli 2019 erschütterte eine Nachricht die japanische Entertainment-Industrie: Johnny Kitagawa (ジャニー喜多川) war am Vortag verstorben. Johnny Kitagawa war der Gründer der Künstleragentur Johnny & Associates und hat die Idolkultur in über 60 Jahren so sehr geformt, wie sonst wohl kein anderer.
Vor allem in den Neunzigern waren seine Boybands, alle unter dem Namen “Johnny’s” zusammengefasst, überall. Johnny’s tanzen und singen nicht nur, sie moderieren Fernsehsendungen und treten in Filmen und Serien auf, in der Werbung sind sie auch ständig präsent.
Es bestand eine strenge Kontrolle über den Zugang zu den Künstlern und den Rechten an ihnen. Wenn einer der Johnny’s auf einem Magazin erschien, durfte das Foto nicht z.B. auf Amazon gezeigt werden. Johnny’s erschienen dort immer nur als Silhouetten. Auf ihrer eigenen Website gab es erst seit 2011 Fotos! Bis kurz vor seinem Tod fanden Johnny’s auf YouTube schlicht nicht statt.
Wer ein Stück vom Johnny’s-Kuchen abhaben wollte, musste nach Johnny Kitagawas Pfeife tanzen.
Im Guiness Buch der Rekorde wurde er als Produzent der meisten Nummer 1 Hits weltweit geführt. Seit Anfang September diesen Jahres wird dieser Rekord online nicht mehr angezeigt. Es wurde endlich flächendeckend darüber berichtet, was viele schon wussten: Johnny Kitagawa verging sich seit den Anfangsjahren der Johnny’s bis zu seinem Tod an den jungen Künstlern.
Das System der Johnny’s: Im ganzen Land wurden Auditions für jugendliche Jungen (Johnny & Associates hat nie weibliche Künstler vertreten) gehalten. Wer dort ausgewählt wurde, wurde meist über Jahre in Tanz und Gesang ausgebildet und trat zuerst meist als Background-Tänzer der etablierten Gruppen aus, bis er mit genug Erfahrung und Beliebtheit debütieren konnte. Dieses System gibt es übrigens auch bei anderen Agenturen und es wird auch z.B. in Korea angewandt.
Viele der Jugendlichen lebten für die Zeit ihrer Ausbildung in Tokyo in einem Wohnheim, in der Hoffnung, dass Kitagawa als nächstes ihnen eine Chance geben würde. Damit waren sie leider gefundenes Fressen für einen Menschen wie Kitagawa. Ich möchte nicht zu sehr auf die Details eingehen, aber er verging sich wohl sexuell an hunderten von Jungs, die teils erst 13 Jahre alt waren.
Natürlich stellt sich die Frage, wie denn da niemand etwas mitbekommen konnte. Die Antwort ist einfach: Es war vielen bekannt. Bereits in den Achtzigern hatte ein ehemaliges Mitglied einer der ersten Boygroups ein Buch veröffentlicht in dem er Kitagawa Missbrauch vorwarf. In den Neunzigern beschrieb ein anderer Künstler in einem Buch Vorfälle, die er in Kitagawas Anwesen miterlebt haben wollte.
Kurz vor der Jahrtausendwende veröffentlichte ein großes Wochenmagazin, “Shūkan Bunshun” (週刊文春), eine zehnteilige Artikelserie über Kitagawas verhalten. Der klagte wegen Verleumdung und gewann, nach Einspruch des Magazins wurden die Fälle sexuellen Missbrauchs Minderjähriger vor Gericht als erwiesen angesehen.
In den frühen 2000ern hatte also ein japanisches Gericht festgestellt, dass der wahrscheinlich einflussreichste Musikproduzent des Landes Jungen missbrauchte. Was daraufhin passierte ist fast ein genau so großer Skandal, wie die Taten an sich: Nichts.
Die Johnny’s kappten alle Verbindungen mit dem Verlag, aus dem das Magazin stammte und die anderen Medien verstanden sofort: Wer sich gegen Johnny Kitagawa wendet verliert den Zugang zu den Johnny’s. Kitagawas Taten wurden im Fernsehen komplett verschwiegen, um weiter mit seinen Jungs Quote machen zu können. Stellt euch vor, ihr werdet als Kinder missbraucht, findet den Mut vor Gericht auszusagen, bekommt Recht und es interessiert einfach niemanden. Noch schlimmer, der Täter bleibt erfolgreich und der Strom an Jugendlichen mit einem Traum reißt nicht ab.
Als Kitagawa 2019 verstarb, wurde er im Tokyo Dome, in dem seine Künstler oft auftraten, groß als geliebte Figur verabschiedet. Der damalige Premierminister Abe Shinzō veröffentlichte eine Kondolenznachricht.
Das hätte das Ende sein können. Eine wunderschöne Geschichte: Halbjapanischer Amerikaner lässt sich in Japan nieder, revolutioniert das Entertainment Business, scheffelt Unmengen an Geld, verstirbt und verbleibt in guter Erinnerung.
Dass das nicht das Ende war, ist der BBC zu verdanken. In der Dokumentation “Predator: The Secret Scandal of J-Pop” brachten sie im Frühjahr 2023 alte und neue Vorwürfe (wieder) ans Licht und diesmal war das Echo ein Anderes. Einerseits hat das sicher etwas mit dem Tod Kitagawas und der daraus folgenden Lockerung des Zugangs zu den Johnny’s zu tun, andererseits hatte auch Japan eine “Me Too”-Bewegung. Die Fernsehsender beriefen Pressekonferenzen ein und gelobten, die Vowürfe ernst zu nehmen.
Johnny & Associates, nach dem Tod Kitagawas von seiner Nichte Fujishima Julie geführt, kündigte an, interne Untersuchunge anzustellen. Während die Fernsehsender anfangs noch an den Johnny’s festhielten, werden in den letzten Wochen und Monaten immer mehr Partnerschaften und Werbedeals aufgekündigt. Einige große Künstler haben sich von der Agentur getrennt. Es ist endlich toxischer auf der Seite von Johnny & Associates zu sein, als etwas gegen sie zu sagen.
Am Montag dann der letzte Sargnagel auf einer Pressekonferenz: Johnny & Associates wird aufgelöst. Die Verwaltung der Rechte wird von einer Nachfolgefirma übernommen werden, eine neue Agentur für die bisherigen Künstler, die dies wünschen, wird eröffnet werden. Sie ziehen sich komplett aus dem Trainingsgeschäft für Jugendliche zurück.
Während der Pressekonferenz wurden starke Worte von Fujishima Julie verlesen. Sie entschuldigt sich bei allen Opfern ihres Onkels und möchte sie finanziell entschädigen und ihnen die psychologische Hilfe zukommen lassen, die sie brauchen. Außerdem schrieb sie, dass sie alle Spuren ihres Onkels vernichten wolle. Ich muss zugeben, dass mich ihre klaren Worte berührt haben. Sie hat über die letzten Monate offenbar viel getan, um die Anschuldigungen und die Opfer zu verstehen und hat beschlossen, einen harten Schnitt zu machen.
Eine Ära geht zuende. Gut so.
Wow. Also wie zuerst damit umgegangen wurde muss nicht weiter kommentiert werden. Einfach nur ekelhaft.
Wie gut, dass endlich mal klare Konsequenzen gezogen werden, auch wenn es persönliche Verluste mit sich zieht.
(natürlich von einer Frau)
Das weckt in mir die Erinnerungen an Weinstein, Eppstein, Cosby und viele mehr. Alles Männer mit viel Macht die anderen Angst machen könnten. Fujishima Julie Ist eine sehr mutige Frau, im Westen würde weiterhin alles unter den Tisch gekehrt.
Man muss dazu sagen, dass Julie bereits seit ihrer Kindheit mit Johnny’s verbandelt war und in den frühen 90ern anfing, dort zu arbeiten. Sie ist absolut Teil des Problems gewesen. Dass sie jetzt so starke Worte findet, hat sicher auch etwas damit zu tun, dass sie keinen anderen Ausweg mehr gesehen hat.