In meinen Jahren in Japan ist mir immer wieder aufgefallen, wie viele Migranten meinen, sich mit allen anderen Migranten vergleichen zu müssen. Das beginnt meist beim Kennenlernen: Und, wie viele Jahre bist du schon in Japan? Oh, was hat dich hierhin verschlagen? Hast du dich schon eingelebt? Sprichst du Japanisch? Wie gut? Hast du japanische Freunde? Auch japanische Freunde, mit denen du Japanisch sprichst? Als was arbeitest du?
Die größte Animosität wird dabei denen entgegengebracht, die es nicht „richtig“ machen. Denen, die schon lange in Japan leben, die Sprache aber kaum sprechen. Denen, die sich sowohl beruflich als auch privat nur mit anderen Ausländern umgeben. Diese Männer (es sind meist Männer), über die in verschwörerischem Flüsterton geraunt wird: Der hat einen halbjapanischen Sohn, mit dem er sich nicht verständigen kann. Seine Frau ist sauer, weil er als Englischlehrer mit 40 noch genauso viel verdient wie mit Ende 20. Wenn sie sich scheiden lässt, verliert er das Sorgerecht und sieht sein Kind nie wieder.
Auch in Online-Communities von Menschen, die nach Japan ausgewandert sind, besteht diese Hackordnung und wird oft mit brutalen Worten demonstriert.
Als Begründung wird oft genannt, dass unassimiliertes Verhalten eines einzelnen Ausländers den Ruf aller Ausländer ruinieren würde. Kenny spricht kein Japanisch, deswegen werde ich immer auf Englisch angesprochen. Raphaela hat keine japanischen Freunde und integriert sich nicht in Japan, deswegen werde ich wie ein Außenseiter behandelt.
Ich bin nun seit insgesamt rund 15 Jahren hier. Mit Mitte 30 bin ich auch so weit in mir gefestigt, dass ich nicht reflexartig nach unten treten muss, wenn ich auf eine gefühlte Ungerechtigkeit stoße. Stattdessen kann ich in Ruhe versuchen, die wahren Ursachen zu ergründen.
Wenn Kenny kein Japanisch spricht, stört mich das wenig. Es tut mir natürlich leid für ihn, da man ohne Sprachkenntnisse viel Hilfe im Alltag benötigt und viele tolle Dinge verpasst. Deswegen rate ich jedem, der hier wohnen möchte, Japanisch zu lernen. Aber wenn es jemand nicht kann, dann ist das eben so – es beeinträchtigt meinen Alltag schließlich nicht. Außerdem muss ich zugeben, dass mein Japanisch zwar für Filme, Bücher und den Alltag vollkommen ausreicht, mein vierjähriger Sohn aber trotzdem manchmal einfach Wörter mitbringt, die ich nicht kenne. Letztens „tagayasu“ (耕す), „pflügen“. Klassisches Japanisch geht mir auch vollkommen ab.
Auch, ob jemand japanische Freunde hat, ist mir ziemlich egal. Mir haben japanische Freunde dabei geholfen, mich heimischer zu fühlen und nicht immer noch gefühlsmäßig mit einem Bein in Deutschland zu stehen. Aber ich weiß auch, wie schwer das sein kann. Ich selbst bin ungern die Quotenausländerin, mit der sich die Leute nur abgeben, weil sie „exotisch“ ist. Meine Freunde habe ich allesamt über Hobbys gefunden, die überhaupt nichts mit meinem Ausländischsein zu tun haben.
Nur weil mir etwas guttut oder ich etwas priorisiert habe, heißt das ja noch lange nicht, dass das der einzige richtige Weg ist.
Letztendlich ist es nicht nur so, dass viele Wege zum Glück führen – jeder hat auch seine eigene Interpretation davon, was Glück überhaupt ist. Wenn wir alle andere Ziele haben, wäre es doch eigenartig, wenn wir alle dieselben Wege beschreiten würden.
Wir sehen nicht, welches Päckchen ein anderer mit sich herumschleppt. Idealerweise sollten zumindest keine zusätzlichen unnötigen Wackersteine hineinwerfen.
Schöne und sehr wahre Worte und wieder einmal frage ich mich, ob die Menschen nicht wichtigeres in ihrem Leben zu tun haben, als andere zu bewerten und zu verurteilen. Wie du sagst: Man kann de Situationen ja auch hinterfragen und nicht pauschalisieren.
Hier passt wieder mal “Jeder soll nach seiner Façon selig werden.” vom alten Fritz. Zusatz: Solange er mich nicht dabei stört, nach meiner Façon selig werden zu wollen.