Alle anschnallen bitte.

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(c) JAF / In etwa “Wir schnallen uns auch auf den Rücksitzen an”

Japan. Ein fortschrittliches Land. Manche Dinge sind anders als zuhause, und das ist okay. Es gibt nur ein Thema, über das ich mich regelmäßig aufrege: Anschnallen.

Aus irgendeinem Grund ist das Anschnallen auf den Rücksitzen nämlich erst seit Mitte 2008 Pflicht*, was natürlich heißt, dass viele es gar nicht als nötig erachten. Nun ist mir das bei Erwachsenen recht egal, wenn sie in einen Unfall verwickelt werden und sterben, ist das allein ihre Verantwortung.

* 後部座席シートベルト着用義務 (Kôbu Zaseki Shîtoberuto Chakuyô Gimu; Sitzgurt-Anlege-Pflicht auf den Rücksitzen)

Die ganzen unangeschnallten Kinder bereiten mir viel größere Kopfschmerzen.

Bei meiner alten Arbeit bot mir eine Mama an, mich bis zum Bahnhof im Auto mitzunehmen. Neben mir saß ihr 4-jähriger Sohn – bzw. hüpfte er im Auto herum. Die Anschnallgurte waren unter die Sitze gestopft. Auf meine Bitten sich doch zumindest hinzusetzen, stimmte seine Mutter mir zu “Hörst du Yûto, du sollst dich hinsetzen” – Wenn du das willst, setze ihn auf einen Kindersitz und schnalle ihn an. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich unangeschnallte Kinder auf Hinter- und Vordersitzen oder dazwischen gesehen habe. Das gleiche gilt fürs Fahren mit Baby auf dem Schoß.

Wenn wir auf der 高速道路 (Kôsokudôro; unsere japanischen Autobahn) fahren, sehe ich öfter in den Autos um uns herum mehere Gestalten auf den Rücksitzen herumturnen – unangeschnallte Kinder, bei 100 km/h. In Deutschland undenkbar.

スクリーンショット 0027-08-07 7.14.54Erst diese Woche gab es in 名古屋 (Nagoya) einen Unfall. Ein Sportwagen fuhr in einen Familienwagen, die zwei unangeschnallten Kinder wurden aus dem Auto geschleudert. Die 8-jährige Tochter verstarb daraufhin im Krankenhaus, der 6-jährige Sohn wurde schwer verletzt. Mama, auf dem Fahrersitz, kam mit leichten Verletzungen davon. War ja schließlich angeschnallt.

Das Problembewusstsein fehlt. Was soll denn schon passieren, ich fahre schließlich vernünftig. Da gibt es dann eben Fragen im Internet wie “Ist es jetzt gegen das Gesetz, wenn ich mein Kinder nicht anschnalle? Wie hoch ist die Strafe?” – Man sollte Kinder nicht aus Angst vor Strafzahlungen anschnallen, sondern weil sonst eine reelle Gefahr für ihr Leben besteht. Mir ist klar, wie nervig Kinder Anschnallgurte finden, und wie anstrengend das sein kann. Zähneputzen finden die meisten Kinder viel schlimmer, tun müssen sie es trotzdem.

Immerhin ist das erste Suchergebnis wenn man im japanischen Google nach シートベルト (Shîtoberuto; von “Seatbelt”) sucht, diese Seite von der japanischen Polizei. Leider ist die Seite super alt, und selbst die Informationsvideos muss man sich erst herunterladen um sie sehen zu können.

Ich werde also wahrscheinlich noch einige Male schockiert den Kopf schütteln…

Bin ich noch gut angepasster Ausländer oder schon Rassist?

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Meine Schwester und ich bei meiner Hochzeit.

Am Samstag fiel mir ein Kommentar unter dem Foto einer deutschen Bekannten auf Instagram auf.

“This is some culture appropriation shit.”

Was hatte meine Bekannte getan? Einen Kimono getragen. Einen sehr modernen, sehr coolen Kimono. Aber erst einmal ein bisschen Hintergrund.

Was ist Cultural Appropriation?

Der Begriff kommt aus Amerika, weswegen er am einfachsten an amerikanischen Beispielen zu erklären ist. Wenn in Amerika, mit der dominanten amerikanischen Kultur, ein Mitglied dieser dominanten Kultur Teile einer historisch unterdrückten Minderheitskultur (black culture, native American culture, …) kopiert, ohne die kulturelle Bedeutsamkeit des Kopierten zu verstehen oder die für Mitglieder der Minderheitskultur eng verknüpfte Unterdrückung erleben zu müssen, ist das Cultural Appropriation.

Wenn z.B. ein weißer Amerikaner ein Warbonnet (die Federhaube der nordamerikanischen Indianer) aus Spaß oder um cool zu wirken trägt, eignet er sich ein Objekt mit großem Stellenwert in der unterdrückten Herkunftskultur an, versteht den Stellenwert höchstwahrscheinlich nicht, und lebt nicht in der Gewissheit dass seine Vorfahren von den weißen Siedlern verdrängt und abgeschlachtet wurden und die Echos der Geschichte in die Gegenwart reichen.

Was brauchen wir also, um etwas als “Cultural Appropriation” zu bezeichnen?

Jemanden, der sich ein Element einer unterdrückten Minderheitskultur aneignet, und der dieses Objekt in seiner Signifikanz nicht versteht und/oder es gegen den Willen der Ursprungskultur übernimmt.

So weit so gut. Meine Bekannte und ich, wir leben in Japan. Wir haben japanische Familie, japanische Freunde – und wir begehen japanische Rituale. Nicht, weil wir Japan so unglaublich toll und exotisch finden würden, oder wir unbedingt Japanisch sein wollen, sondern weil es die Kultur unseres neuen Heimatlands ist. In anderen Worten: Es ist die dominante Kultur und wir, als Mitglieder der Minderheitskultur, passen uns an. Das ist nicht “Cultural Appropriation” sondern Assimilation.

Wir begehen viele dieser Rituale, weil es von uns erwartet wird und weil wir ein Teil nicht nur unseres neuen Landes sondern vor allem unserer japanischen Familie sein wollen. Stellt euch vor, wir würden die japanische Kultur nicht annehmen: Wie arrogant und ignorant wäre das denn? Und apropos “Elemente einer Kultur in ihrer Signifikanz nicht verstehen”: Wir lernen von denen, die es wissen müssen – Japanern in Japan. Eben jene Japaner in Japan freuen sich übrigens riesig, wenn Nicht-Japaner ihre Kultur so sehr wertschätzen, dass sie sie selbst ausüben (Siehe: Als Ausländer Yukata tragen.) Wir haben also sogar die Erlaubnis der dominanten Kultur.

Wenn wir als Deutsche in Japan Kimono tragen, tragen wir ihn nicht als Kostüm, sondern korrekt und als Ausdruck unserer Verbundenheit zu unserer zweiten Kultur*. Und aus dem Grund, aus dem Japaner Kimono tragen: Sie sind einfach wunderschön. 🙂 Wir tragen kein eigenartiges ein bisschen japanisches, ein bisschen chinesisches, sehr sexualisiertes Kleidungsstück wie Katy Perry bei einer Performance 2013. Das war übrigens in Amerika ein Skandal – während der Großteil der Japaner sich nicht daran gestört hat.

* “… unserer ersten Fremdkultur” analog zur “ersten Fremdsprache”?

Japaner brauchen niemanden, der sich an ihrer Stelle aufregt. Ich brauch niemanden, der mich als “kulturlosen Mayo-weißen Rassisten” bezeichnet, weil ich an der Kultur meines neuen Heimatlandes teilhabe. Vor allem nicht, wenn ich von Japanern haufenweise Komplimente bekomme, wenn ich Yukata oder Kimono trage. Deren Meinung ist mir nämlich, im Gegensatz zu der einer Amerikanerin aus dem Internet, wichtig. 🙂

Alle Jahre wieder: Gesundheitsuntersuchung.

IMG_2502Dank Artikel 66 des japanischen Arbeitsschutzgesetzes (労働安全衛生法 Rôdô Anzen Eisei-Hô) muss sich jeder Arbeitnehmer in Japan einmal im Jahr einer Gesundheitsuntersuchung (健康診断 Kenkô-Shindan) unterziehen.

Die Kosten trägt zwar die Firma, aber wenn man auf Stundenbasis arbeitet wird einem oft die Zeit nicht angerechnet. Außerdem bekommt die Firma sämtliche Ergebnisse – aus deutscher Sicht etwas fragwürdig.

Als Begründung für die Untersuchung wird angegeben, dass durch sie vorbeugend gehandelt werden kann – Probleme werden nicht erst ersichtlich, wenn es so schlimm ist, dass man ins Krankenhaus muss. An sich natürlich lobenswert, aber das gleich gesetzlich zu verankern… Nun ja.

Ich habe die Untersuchung bis jetzt bei zwei Firmen und drei Ärzten mitgemacht, es war immer etwas anders. Ab 35 Jahren ändert sich der Inhalt noch einmal.

Zuerst bekommt man, wie auch bei so gut wie jedem anderen Arzt, ein Blatt auf dem man seinen Lebensstil beschreiben soll, und angibt welche Krankheiten man schon einmal hatte. “Ich esse schneller als andere Menschen”, “Im letzten Jahr hat sich mein Gewicht um mehr als 3kg verändert”, “Ich esse mit jeder Mahlzeit Gemüse”, usw. Die wichtigste Frage ist natürlich “Wenn Sie Hinweise zum gesünderen Leben bekämen, würden Sie sie annehmen?” 😉

IMG_2501Meine bisher umfangreichste Untersuchung hatte ich gestern: Urinprobe, Körpergröße und Gewicht, Blutprobe, Blutdruck, Sehstärke, Hörvermögen, Elektrokardiogramm, Bauchumfang und natürlich Röntgen. Egal wie rudimentär die Untersuchung ist, ob Blut abgenommen wird oder nicht, die Lunge wird immer geröntgt.

Im Jahr 2013 wurden in Japan etwa 20.500 Tuberkulose-Neuerkrankungen registriert, das sind 16,1 pro 100.000 Einwohner. In Deutschland waren es im selben Jahr 5,3 pro 100.000 Einwohner. Die Zahlen in Japan scheinen Grund genug zu sein, obwohl der Doktor-Schwiegeronkel sagt, dass die Röntgengeräte die in diesen Kliniken benutzt werden so schwach sind, dass es oft erst dann diagnostiziert wird, wenn die Löcher in der Lunge recht groß sind. Die Bleiweste um seine Fortpflanzungsorgane vor der Strahlung zu schützen bekommt man übrigens nur auf Nachfrage.

Einige Wochen nach der Untersuchung bekommt man einen Bogen mit den Testergebnissen, mal mehr und mal weniger aufschlussreich. Ich persönlich finde die Untersuchung eher zeitverschwendend, auch weil ich immer gute Ergebnisse habe. Vielleicht hilft es Leuten, die  einen ungesunden Lebensstil haben, das mal etwas kritischer zu betrachten.

Ich bin auf jeden Fall froh, es hinter mir zu haben. Bis nächstes Jahr.

Warum sind Japaner… ?

スクリーンショット 0027-07-19 8.36.24Die Google Auto-Vervollständigung weiß, was die Menschen bewegt. Also dachte ich mir, dass ich ein paar Fragen die die Nation nicht ruhig schlafen lassen, beantworte.

… so komisch?

Japaner sind “so komisch”, weil das alles ist, was im Ausland ankommt. Jeder kennt die Geschichte von den Automaten mit benutzter Unterwäsche. News Flash: Benutzte Unterwäsche wird auch in Deutschland verkauft. Japaner lieben einfach nur ihre Automaten. Ich selbst habe diese Maschinen übrigens noch nie gesehen und von Fotos kann man nur schlussfolgern, dass sie in Sex Shops stehen.

Nur wenige Filme, die es nach Deutschland schaffen, sind japanischer Mainstream – sie sind oft entweder komplett bizarr oder Horrorfilme. Das alles führt übrigens auch dazu, dass die japanischen Schauspielfähigkeiten manchmal etwas unterschätzt werden – die guten Filme laufen eben nicht in Deutschland.

Es gibt in Japan komische Dinge, aber der Großteil der Bevölkerung ist komplett normal und langweilig. Klar, es ist eine andere Kultur und manche Dinge wirken komisch. Aber irgendwie hält sich nur bei Japanern das Vorurteil, dass sie irgendwie total abgefahren sind.

… so dünn?

Irgendwie scheinen manche Leute davon auszugehen, dass alle Japaner und vor allem Japanerinnen einfach von Natur aus total schlank sind. Und ja, auf der Straße sieht man eher selten dicke Menschen. Aber erstens sind Japaner anders gebaut und zweitens legen vor allem Frauen oft viel Wert darauf dünn zu sein. Die Message, die man im Westen inzwischen oft hört: “Es ist ok, wenn du nicht schlank bist”, “Es gibt Wichtigeres als dein Aussehen”, ist in Japan so gut wie nichtexistent. Dünn zu sein ist hier wichtiger als in Deutschland, oft nicht für sondern durchaus auch gegen die eigene Gesundheit.

Man muss sich wirklich nur einmal am Zeitungsstand umschauen um zu merken, dass auch Japanerinnen Diät halten. 🙂

… so schlau?

Japaner sind nicht mehr oder minder intelligent als alle anderen Menschen. Es wirkt vielleicht so weil sie mehr lernen. Ich sehe in Japan viel mehr Leute mit Lehrbüchern in der Bahn und in Cafés als in Deutschland. Mein Mann kann fünf Stunden beinahe ohne Unterbrechung lernen. Das ist wahrscheinlich etwas, was man sich in der Kindheit entweder aneignet – oder eben nicht.

… so hübsch?

Weil man, wenn man nicht gerade in einer Gegend mit vielen Japanern lebt, in Deutschland nur die Bilder aus den Medien zu sehen bekommt. Es gibt hässliche Japaner, es gibt schöne Japaner, und es gibt natürlich auch das ganze Spektrum dazwischen. Große Überraschung: Schauspieler und Models representieren nicht den Durchschnitt der japanischen Bevölkerung. 🙂

… so verrückt?

Wenn “komisch” gemeint ist: Siehe oben. Ansonsten habe ich das Gefühl, dass in Japan mehr “verrückte” Menschen leben weil erstens viele Leute unter einem enormen Druck stehen und zweitens psychische Erkrankungen von der Masse nicht wirklich anerkannt werden. Es gibt in Japan das Konzept von 建前 (tatemae) und 本音 (honne), dem Gesicht, dass du der Welt zeigst und dem, was du wirklich denkst. Natürlich gibt es diesen Unterschied auch in Deutschland, aber in Japan wird erwartet, dass man immer seine wahren Gefühle und die Gefühle, die für eine Situation angemessen sind, immer brav auseinanderhält und bloß nicht seine eigene Meinung durchscheinen lässt. Um des Friedens willen.

Dann besteht noch das Problem mit 我慢 (gaman; Aushalten). Wenn man sich die verlinkte Wikipedia-Seite durchliest, klingt Gaman total super. “Einschränkung des Egoismus zu Gunsten anderer”, toll, da können sich die Deutschen mal eine Scheibe von abschneiden! Letztendlich heißt es aber, dass man alles für sich behält, nicht um Hilfe bittet und, wenn jemand durch telepathische Superkräfte merkt, dass man Probleme hat und Hilfe anbietet, auch die nur zögerlich annimmt.

Für viele Leute mag Tatemae und Gaman total gut funktionieren, aber stellt euch vor jemand wächst mit diesen Werten auf und sein Leben geht, durch Schicksalsschläge oder psychische Probleme, den Bach herunter. Wo in Deutschland vielleicht jemand eingreifen könnte, merkt man hier oft erst, dass etwas schief läuft, nachdem etwas Schreckliches passiert ist. Vor kurzem hat ein Teenager einen alten Mann umgebracht, weil er gestresst war.

… so ruhig?

Gaman.

… so freundlich?

Tatemae.

Gaman und Tatemae haben durchaus ihre guten Seiten. Bei einer großen Katastrophe wie dem großen Beben 2011 hilft Gaman. Das tägliche Leben ist so angenehm, weil alle mit ihrem Tatemae durch die Gegend laufen.

Natürlich ist das nicht alles echt, was vor allem in Deutschland, wo Authentizität so wichtig ist, ein wenig Naserümpfen verursacht. Aber stellt euch mal vor, ihr würdet in euer Bürgeramt gehen, und alle wären nett und würden sich bemühen euch den besten Service zu geben, auch wenn ihr ihnen eigentlich egal seid. Wäre das so schlimm? Das Problem entsteht, wenn man sein Tatemae nicht mehr ablegen kann, wenn man jeden Tag nur Gaman… macht.* Das passiert, und manchmal endet es tragisch. Es deswegen komplett zu verteufeln finde ich aber auch problematisch. Ein gesunder Mittelweg muss her.

* “etwas aushalten” ist auf Japanisch 我慢する (Gaman suru; Aushalten machen).

Letztendlich bleibt nur zu sagen: Japaner sind total normal, nur anders. 🙂