Das Beben.

Heute jährt sich das Tôhoku-Erdbeben zum ersten Mal. Im Rückblick ein paar Erinnerungen aus der Zeit, die ich zum Glück relativ sicher in der Nähe von Tokyo verbracht habe.

Mein Mann und ich wollten am Tag des Bebens Apfelkuchen backen und mussten dafür zum Supermarkt. Gerade, als wir uns auf den Weg machen wollten, fing es plötzlich an zu rütteln. Ich kann die Stärke von Erdbeben nicht gut einschätzen, mein Mann sagte nur immer wieder, ich solle unter den Schreibtisch kriechen. Der Familienhund wurde auch aus dem Wohnzimmer in sein Zimmer gebracht, und trampelte mir, total verängstigt, auf dem Gesicht herum. Das Beben dauerte fünf Minuten lang an, was mir wie eine Ewigkeit vorkam. Als die Erde sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, schnappten wir uns den Hund und gingen zu einem freien Feld – dort kann einem nichts auf dem Kopf fallen, falls es wieder ruckeln sollte.

Auf dem Weg dorthin kam uns alles wie ein schlechter Traum vor. Die Autos fuhren, die Menschen liefen, und niemand schien besonders beunruhigt. Auch auf dem Feld trafen wir nur einige junge Frauen, die mit ihren Kleinkindern aus ihren Wohnungen geflüchtet waren. Als wir uns wieder ins Haus trauten sahen wir fern. Bis dahin war mir gar nicht bewusst gewesen, wie stark das Erdbeben war. Die Bilder im Fernsehen zeigten es aber sehr eindrücklich.

Die Bahnen in Tokyo fuhren zum Abend hin nicht mehr, mein Schwiegervater musste von seinem Büro aus bis nach Hause laufen. Taxis waren auch nicht mehr zu bekommen, und in den nächsten Tagen fanden Fahrräder einen reißenden Absatz. Am Tag des Bebens gingen viele einfach Trinken, nach Hause kam man eh nicht mehr. Meine Schwiegermutter war mit meiner Schwiegeroma im Urlaub (innerhalb Japans) und blieb noch eine Nacht länger dort.

Zu der Zeit sah man im Fernsehen immer eine Karte mit tsunamigefährdeten Gegenden eingeblendet. Während die Tokyoter Bucht dort immer wieder vor sich hin blinkte, wurden wir glücklicherweise verschont. Nachrichten liefen den ganzen Tag, auf jedem Sender. Am folgenden Tag, dem 12. März, machten wir am Fluss Vermählungsfotos für die Familie. Die Kirschblüten blühten um die Wette und es war unglaublich windig. Am Morgen gab es in Funabashi einen ungeplanten Stromausfall, dem viele geplante folgen sollten. Die Erde bebte natürlich noch immer.

Interessanterweise bekommt man nach einer Zeit mit vielen Nachbeben das Gefühl, dass die Erde ständig beben würde. Meist ist das aber nur der eigene Puls, der einen zum Narren hält. Heute habe ich das auch noch, dass ich mich hinlege, und frage, ob es wieder rüttelt. Wenn es rüttelt, knarren hier aber die Wände, von daher kann man das ganz gut unterscheiden.

Meine Schwiegermutter kaufte Konserven, Fertignahrung und viel Wasser, wie alle anderen Leute auch. Die Läden waren leer, die Automaten hatten auch keine Wasserflaschen mehr. Zur selben Zeit wurde Tokyo und die umliegenden Präfekturen (Chiba, Saitama, Kanagawa) in Zonen aufgeteilt, in denen je für drei Stunden Stromausfall herrschen würde. Das setzte sich auch in den nächsten Wochen fort, manchmal fiel der Strom auch gar nicht aus, aber meist fuhren mein Mann und ich in der Zeit einfach in einen anderen Teil der Stadt.

Am 14. März haben wir geheiratet. Mein Schwiegervater fuhr uns zum Stadtamt und wieder zurück, wertvollen Treibstoff verbrennend. In der Zeit konnte kein neues Benzin geliefert werden, viele stellten die Lieferungen wegen der Strahlung auch ein, und so bekam jeder an der Tankstelle nur zehn Liter in den Tank. Im Fernsehen wurde veranschaulicht, was im Atomkraftwerk in Fukushima passiert war, wenn auch möglichst ruhig und sachlich, während in Deutschland alle Freunde und jegliche Verwandtschaft die Supernachrichten vom Super-GAU zu hören bekamen. (Wenn keine Einordnung, wie viele Sieverts denn nun eigentlich schlecht sind, und wie viel davon bis wohin gelangt ist, stattfindet, hat man plötzlich geschockte Großeltern.)

In der ganzen Zeit bewies sich übrigens Twitter, in Japan stark genutzt, als zuverlässige Informationsquelle. Als im Fernsehen noch ungenaue Informationen gesendet wurden, bekam man über Twitter schon genauste Tabellen. Ein Grund übrigens, warum ich meinen Twitter-Account noch nicht gelöscht habe, obwohl ich ihn nicht mehr verwende.

Meine Eltern boten immer wieder an, dass ich und meine japanische Familie nach Deutschland kommen könnten, aber für meine Schwiegereltern und meinen Mann kam das nicht in Frage, und ich wollte auch nicht allein nach Deutschland zurückkehren.

Die deutsche Botschaft in Japan hatte sich derweil im Konsulat in Osaka versteckt, so dass wir bis dorthin fahren mussten, um wichtige Dokumente zu unserer Heirat zu bekommen. Osaka mochte ich übrigens nicht, was natürlich an der Situation damals gelegen haben könnte. Auf dem Rückweg ging es zum Glück auch nach Nara, zum Rehegucken. Das war sehr entspannend, durch die ganze Aufregung nach dem Beben waren weniger Touristen als sonst in der Stadt. Rehe beißen, treten und schubsen übrigens.

Zu dem Zeitpunkt war das Beben vom Gefühl her schon weit weg. Tokyo und die westlicheren Gebiete Japans hatten kaum Schäden erlitten und mit einigen Einschränkungen ging das Leben weiter wie zuvor.

Nur auf meinem Rückflug merkte ich die Auswirkungen noch einmal: Wir mussten in Korea zwischenlanden um zu tanken, wodurch ich in London meinen Anschlussflug verpasste und eine Nacht in einem Hotel schlafen musste. Das Flugzeug war nur zu einem Drittel besetzt. Wenn keine Touristen nach Japan kommen, fliegen auch keine wieder nach Hause.

Zurück in Deutschland, zwei Wochen nach dem Erdbeben, wurde ich beim Strahlenschutzzentrum  in Berlin-Karlshorst überprüft. Einer der Wissenschaftler meinte, dass bisher niemand mit auffälligen Werten getestet wurde. Meine Strahlungswerte waren etwas erhöht, aber nicht höher, als wenn man in Berlin gesammelte Pilze isst. Wahrscheinlich habe ich durch Röntgenbildaufnahmen in meinem Leben schon mehr Strahlung abbekommen.

Meine zukünftigen Kinder werden also wahrscheinlich keine Tentakel statt Armen haben.

Seit der Katastrophe damals haben in Japan viele Menschen Hilfe bekommen, auch wenn das Beben immer mehr in Vergessenheit gerät. Aufgerissene Straßen sind geflickt, Müll aufgesammelt worden. Nord-Ost-Japan wird wieder in die Normalität zurück geführt. Viele Atomkraftwerke sind abgeschaltet worden. Es geht vorwärts.

(Dem Strom der Fukushima-Artikel werde ich mich dennoch entziehen.)

“Sprechen Sie Japanisch?”

In letzter Zeit war ich öfter mal im Krankenhaus. Nichts Ernstes, ich möchte mich nur absichern. Am Anmeldeschalter.

Sie: Sind Sie zum ersten Mal hier? Sprechen Sie Japanisch?

Ich: Ja. Ja.

Ich bekomme einen Anmeldebogen.

Sie: Können Sie schreiben?

Ich: Ja.

Dann in der Orthopädie, wo ich wieder einen Zettel ausfüllen muss, diesmal mit Symptomen und Ähnlichem.

Sie: Können Sie das schreiben?

Ich: Ja.

Als ich endlich zum Arzt ins Behandlungszimmer komme:

Er: Packen Sie ihr Gepäck einfach in den Korb. Sprechen Sie Japanisch?

Ich: Ja.

Ich muss zum Röntgen. Diesmal fragt mich keiner, ob ich tatsächlich die Sprache des Landes, in dem ich lebe, spreche. Beim Nachgespräch mit dem Arzt läuft auch alles klar. Als Ausländerin bin ich einfach im Gedächtnis zu behalten. Dann wird noch mit einer anderen Schwester über den nächsten Termin geredet.

Sie: Sprechen Sie Japanisch?

Ich: Ja…

Ich weiß, dass es nicht viele Ausländer in Japan gibt, und noch weniger nicht-asiatische. Es gibt bestimmt auch viele, die gar kein Japanisch sprechen. Aber für mich ist es ein wenig frustrierend, wenn immer davon ausgegangen wird, dass ich nicht kommunizieren kann. Ich will Teil der japanischen Gesellschaft werden. Als Deutsche. Japanerin will ich nicht werden, das erfordert das Tragen von zu hohen Schuhen, aber ich will irgendwann als gleichwertiger Gesprächspartner, sofern es denn mein Vokabular zulässt, gesehen werden. Nicht als Möglichkeit Englisch zu reden.

Das versuchen dann nämlich auch viele, und bei vielen darf man in Japan davon ausgehen, dass mein Japanisch besser ist als deren Englisch. Die Schwieger-Großmutter glaubt mir auch noch nicht so ganz, dass ich Japanisch spreche. Was denken die ganzen Leute denn, wie ich hier durch die Weltgeschichte komme? Eine deutsche Parallelgesellschaft haben wir hier schließlich noch nicht.

Die Ärzte müssen aber (teilweise) im Studium noch immer Deutsch lernen. Beim Testen meiner Nervenreaktion war ein ganz witziger Arzt. So ein Test dauert ein wenig, da ist das praktisch. Woran er sich noch aus dem Deutschunterricht erinnert:

Er: Eins, zwei, drei. Prost. Das ist doch “Prost”, oder? Oh, und “Ich liebe dich.”

Ich: Dann haben Sie sich ja alles Wichtige gemerkt.

Er: Natürlich!

Vielleicht denken sie auch, dass alle Ausländer die gleichen Fremdsprachenkenntnisse haben wie sie selbst*…

* Es gibt natürlich Japaner, die unglaublich tolles Englisch sprechen. Oder auch Französisch. Oder sogar Deutsch! Aber im Durchschnitt würde ich sagen, dass hier weniger Leute eine Fremdsprache sprechen als in Deutschland.

Ich sollte mal ausprobieren, was passiert, wenn ich behaupte, ich würde die Sprache nicht sprechen. Panik wahrscheinlich.

Alles redet mit mir.

Als ich 2008 das erste Mal nach Japan kam, gab es nur eine Sache, die mir ernsthaft Sorgen bereitete: Alles machte Geräusche. Alles erzählte mir irgendetwas. In einer Sprache, die ich nur ansatzweise sprechen konnte. Selbst heute wundert es mich noch ein wenig, wie man ständig zugelabert wird.

In der Bahn:

Es kann sein, dass wir um einem Unfall vorzubeugen plötzlich stoppen müssen, also halten Sie sich fest. In dieser Bahn gibt es Priority Seats für ältere Menschen, Menschen mit Bewegungseinschränkungen, Schwangere, die kleine Kinder dabei haben. Wir bitten Sie, in der Nähe der Priority Seats das Handy auszuschalten. Sehen Sie bitte im Rest der Bahn von Telefongesprächen ab.

Auf der Rolltreppe:

Bitte treten Sie nicht auf den gelb markierten Bereich. Bitte halten Sie sich fest. Bitte seien Sie vorsichtig.

Von einem Krankenwagen:

Bitte machen Sie den Weg frei, dies ist ein Krankenwagen.

Am Geldautomaten:

Bitte stecken Sie ihre Karte rein. Bitte geben Sie ihre PIN ein. Bitte geben Sie den abzuhebenden Geldbetrag ein.

Und all das erwartet Aufmerksamkeit von einem. Richtig ruhig ist es nicht einmal zuhause, denn jeden Tag um halb fünf gibt es folgende Ansage aus den großen Lautsprechern, die überall draußen installiert sind:

Dies ist eine Ansage. Es ist halb fünf und wird langsam dunkel, also spielt nicht mehr draußen.

Und um fünf gibt es natürlich ein Glockengebimmel um den Feierabend einzuläuten.

Zum Glück lebe ich nicht in Shinjuku oder an ähnlichen Orten, wo sich zu all dem auch noch der Krach der Geschäfte gesellt. Marktschreien ist hier nämlich noch in Mode.

Bibliothek in Japan, grüne Hexen und ein überarbeiteter Ehemann.

Eigentlich war die letzten Wochen nicht viel los. Ich erzähle trotzdem mal.

Mein Mann ist fast nur noch auf Arbeit. Unter der Woche schläft er im Hotel, weil er, würde er die eineinhalb Stunden nach Hause fahren, ein noch größeres Schlafdefizit hätte. Im Gegensatz zu mir kann er in der Bahn nämlich nicht schlafen. Morgen fahre ich vielleicht abends zum Hotel, um ihn mal wieder zu sehen und ihm saubere Kleidung zu bringen. Ich rette mich mit dem Gedanken, dass wir in zwei Wochen zusammen in Deutschland sind und sowieso schon mehrere Monate, ohne einander sehen zu können, überstanden haben. Derweil betreibe ich Retail-Therapy.

Nachdem ich großspurig angekündigt hatte, mehr Bücher zu lesen, habe ich mich bei der Bibliothek angemeldet. Die Stadt unterhält Bibliotheken an verschiedenen Orten. Die größte könnte ich theoretisch mit dem Fahrrad erreichen, wäre es nicht so kalt. So muss ich mit Bahn und Bus hinfahren. Die kleinste habe ich gleich an dem Bahnhof, an dem ich jeden Morgen in den Zug gen Arbeit steige. Die hat leider nur japanische Bücher, und ich muss zugeben, dass ich das Schmökern in japanischen Buchhandlungen und Bibliotheken noch üben muss.

Dafür bekomme ich am Wochenende aber ein großes Bücherpaket mit Büchern von 東野圭吾 (Higashino Keigo), der das Buch zu 麒麟の翼 (Kirin no Tsubasa) geschrieben hat, von meiner Schwiegermutter.

Die Internetplattform der Bibliothek hier ist übrigens nicht so ausgereift, wie das des VÖBB (Verbund öffentlicher Bibliotheken Berlin).

Auf Arbeit läuft soweit auch alles rund, bis auf einen Mitarbeiter, der nur Probleme bereitet. Ich will nicht zu viel darüber schreiben, aber während er für sechs Monate in einer anderen Filiale arbeitete, wurde kein neues Kind angemeldet, bei uns waren es fast zehn. Meiner Meinung nach sollte er sich nach einem anderen Job umsehen, am besten nach einem, in dem er nicht mit Leuten reden muss.

Die Kinder werden aber immer besser darin, Englisch zu sprechen und generell sozialverträglich zu sein, das freut mich und ich schreibe es natürlich alles auf meine Kappe. 😉

Oh, und ich habe mal wieder etwas Deutsches in Japan gefunden: Grüne Hexe (im Japanischen 緑の魔女, Midori no Majo). Das ist eine Reihe von Reiningungsprodukten, die schonend für die Umwelt sind. Bei mir zuhause sind fast alle Reinigungsmittel supermegaumweltverträglich, erstens, weil ich es vernünftig finde, die Belastung für Umwelt und den eigenen Körper gering zu halten, und zweitens – habt ihr mal an dem Zeug gerochen? Das riecht unglaublich gut nach Kräutern!

Aber, kennt irgendjemand die Firma in Deutschland? Auch wenn auf der Flasche überall steht, dass es aus Deutschland kommt (da kann man nämlich stolz drauf sein), gesehen habe ich die grüne Hexe im Laden in Deutschland noch nie.