Ursprünglich bin ich nach meinem Fach-Abi im Rahmen eines Working Holidays nach Tokyo gekommen. Ich weiß gar nicht mehr, was genau ich mir damals erhoffte, schließlich war ich davor noch nie in Japan gewesen.
Wahrscheinlich wollte ich hauptsächlich Klamotten kaufen und Japanisch lernen. Mir war tatsächlich aber schon zu diesem Zeitpunkt klar, dass Japan kein rosanes perfektes Land ist. Wirklich. Selbst wenn man in Japan angekommen diesen Illusionen noch ein wenig nachhängt: Wenn man in Tokyo mal abends in der Bahn Leute beobachtet, sollte einem ein Licht aufgehen. Das Gesicht des gewöhnlichen Tokyoters ist nur animiert, wenn er spricht, als würde ganz plötzlich ein Mechanismus losgetreten werden, der die Mundwinkel nach oben zieht. Sobald Stille einkehrt werden die Fäden losgelassen und das Gesicht verwandelt sich wieder in die eiserne Maske der Erschöpfung. Oder es wird mit offenem Mund geschlafen.
Über dieses eine Jahr in Tokyo hat sich natürlich einiges geändert, nicht an Tokyo direkt, sondern an mir. Ich habe mich eingewöhnt. An meinem zweiten Tag in Japan habe ich über das Bahnsystem geschimpft, inzwischen sehe ich zwar immernoch, dass es viel zu teuer ist, aber verfahre mich wenigstens nicht mehr. Selbstverständlich war es nicht immer leicht allein in Japan zu leben, zumal ich anfangs wirklich wenig Japanisch verstand und in einem wirklich guten Monat 120,000Yen (860€) nach Hause gebracht habe, wovon die Hälfte für die Miete draufging. Letztendlich hätte ich nach dem Jahr nicht aktiv darauf hingearbeitet wieder nach Japan zu gehen.
Daran, dass ich zurückgekommen bin, ist mein Mann schuld.
Nun lebe ich schon etwas länger hier, und selbst während der zwei Jahre in Berlin zwischen meinem Working Holiday und meinem erneuten Umzug war ich nicht nur drei Mal im Lande, sondern habe auch via Internet und meinem Mann immer einen virtuellen Fuß im Land gehabt. Wenn ich Japan ganz schrecklich fände, würde ich das hier sicher nicht tun, auch nicht für meinen Mann.
Ich finde Japan auch nicht unlebbar, aber wenn man längere Zeit in einem Land lebt, fängt man an die Unzulänglichkeiten mehr zu sehen, während die ganzen positiven Seiten einem nicht mehr auffallen. Ich wette das ist bei jedem so. Egal wie sehr man irgendwo wohnen wollte, oder wie toll das am Anfang war, mit der Zeit zaubert einem die Stadt nicht mehr jeden Tag ein Lächeln aufs Gesicht. Purikura, Katzencafé, Maidcafé, Hostclub, frisches Sushi im Supermarkt, Maccha Latte bis zum Abwinken – irgendwann juckt es einen nicht mehr.
Wann ich Japan mal wieder richtig zu schätzen lerne? Wenn ich in Deutschland bin. Das klingt vielleicht gemein, aber ich merke erst im Ausland wie unglaublich komfortabel dieser kleine Inselstaat doch ist.
Japan hat tatsächlich viele gute Aspekte:
Es ist sehr sicher in Japan zu leben, vor allem wenn man bedenkt, dass Tokyo* 35 Millionen Einwohner hat. Fünfunddreißig Millionen. Das ist der Grund, warum mein Mann Berlin 都会田舎 (Tokai Inaka; in etwa “Stadtdorf”) nennt. Natürlich geschehen auch hier genügend Verbrechen, aber ich habe noch nie eines beobachtet oder bin Opfer geworden. Dabei bin ich auch schon nachts mit Minirock und angetrunken von Shinjuku nach Ogikubo, wo ich damals wohnte, gelaufen. Keine einzige blöde Anmache.** Wenn wir eine Einkaufstüte in der Bahn vergessen können wir davon ausgehen, dass sie nicht abhanden kommt. Mein Mann vergaß einmal sein Handy in 新潟県 (Niigata-ken, Präfektur Niigata) und bekam es nachgeschickt. Selbst wenn man ein Problem hätte, gäbe es noch immer die netten Herren Polizisten vom Koban.
* Inklusive der Städte, in die es nahtlos übergeht. Tokyo hört nicht plötzlich an der Stadtgrenze auf, es geht nahtlos über in die umliegenden Präfekturen, deren Bewohner oftmals in Tokyo arbeiten. Genau wie wir.
** Der Fairniss halber erwähne ich, dass Freundinnen von mir angegrabscht wurden. Super eklig und so etwas sollte jemandem nirgends passieren müssen.
Generell sind die alle so verdammt nett. Natürlich ist vieles nur Fassade und eigentlich haben auch Japaner manchmal gar keine Lust nett zu sein und würden einen viel lieber wie ein waschechter Berliner anraunzen – sie verkneifen es sich aber einfach. Als ich im März nach fünf Stunden Warten in der Immigrationsbehörde endlich dran kam, entschuldigte sich die Dame, die seit inzwischen zwei Stunden Überstunden schob, bei mir, dass ich so lange warten musste. Was wäre wohl in Berlin passiert? Jegliches Problem wird in einem süßlichen Dunst von “Es tut uns so leid, dass wir Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten, wenn ich irgendetwas anderes für Sie tun kann, schrecken Sie nicht davor zurück es mir mitzuteilen” erstickt. Dafür ist die japanische Sprache übrigens super. 深くお詫びを申し上げます。Und natürlich ist das nicht ehrlich, aber letztendlich im Alltag angenehmer.
Dinge funktionieren auch einfach. Ich habe persönlich noch nie erlebt, dass der Aufzug in unserem Bahnhof nicht funktioniert hätte. Nicht ein einziges Mal. Er stinkt übrigens auch nicht nach Urin, denn dafür gibt es eine Toilette. Im Bahnhof. Keine Toilettenfrau, die einem für den Besuch 50ct abknöpfen möchte. Genau wie in jedem Einkaufszentrum – Toilette, aber keine Toilettenfrau. Wie das funktioniert? Ich weiß nicht, aber mysteriöserweise sind die Toiletten hier sauberer als in Deutschland.*** Und Mann, ist das nett.
*** Außer sie gehören zur Keisei-Gruppe. Dann beherbergen sie alte japanische Hocktoiletten und einen höllischen Gestank.
Und natürlich, wenn ich plötzlich irrsinning Lust drauf habe, kann ich zum Karaoke gehen und für 2,500Yen (18€) die Nacht durchsingen. Oder im Supermarkt Maccha Latte und 大福 (Daifuku) kaufen. Eben diese ganzen Dinge tun, die jetzt wenig aufregend sind, mir aber unendlich fehlen würden, wenn ich woanders leben würde.
Trotzdem ist Japan nicht mein Lieblingsland. Vielleicht, weil ich gar kein Lieblingsland habe. Vielleicht, weil mich manche Dinge in Japan auch richtig aufregen können. Das ewige Wegschauen, damit man bloß selbst nicht in Unanehmlichkeiten gerät. Der latente Sexismus im Land. Das Totschweigen von Problemen.
Es gibt Tage, in denen ich erst meine Haltung und Meinung aufzeigen möchte und mich dann doch dafür entscheide, die Hände überm Kopf zusammenzuschlagen. Weil Argumentieren manchmal einfach nichts bringt. 仕方ない。(Shikata nai (auch しょーがない Shô ga nai); Kann man nichts machen.) 8900km Entfernung bestehen manchmal einfach auch im Kopf.
Trotzdem, ich bleibe hier. Vielleicht nicht für immer, vielleicht nicht immer super glücklich, aber das ist ja normal. Japan und ich, wir finden uns glaube ich ganz okay.