Alt und neu in Nihonbashi.

IMG_2559Tokyo verändert sich ständig. Wo vor einem Jahr noch freie Fläche war, steht heute ein Einkaufszentrum.

In 日本橋 (Nihonashi) sind in sehr kurzer Zeit gleich drei entstanden: Coredo室町 (Muromachi) 1 2010, und 2 und 3 letztes Jahr. Die drei Einkaufszentren sind jeweils nicht sehr ausladend und allesamt japanisch inspiriert. Im Coredo Muromachi 1 und 2 befinden sich hauptsächlich Restaurants – in der Gegend sind viele Büros, während der Mittagspause ist es sicher voll. Im Coredo Muromachi 3 sind hauptsächlich 雑貨屋 (Zakka-ya), also Läden die kleine Dinge für den Alltag, etwa Geschirr, Handtücher, Stifte und Briefpapier, verkaufen. Wunderbar um kleine Geschenke zu kaufen.

Inmitten der drei Einkaufszentren steht ein Schrein. Er hat zwei Namen, was nicht wirklich ungewöhnlich ist. Der Schrein wurde vor über 1200 Jahren nach der Gegend 福徳町 (Fukutoku-chô; Dorf Fukutoku) 福徳神社 (Fukutoku-Jinja; Fukutoku-Schrein) genannt. 1615 besuchte ein 将軍 (Shôgun; in etwa ein Herzog) den Schrein zu Neujahr, und sah dass die Kirschbäume des Schreins junge Sprossen (芽 me) austrieben und benannte ihn in 芽吹神社 (Mebuki-Jinja; Mebuki-Schrein) um.

Anders als die meisten Schreine stand der Fukutoku-Schrein aber nicht immer an diesem Ort: Erst brannte er ab, und dann fand sich lange kein fester Platz für ihn. Die neuen Gebäude wurden erst letztes Jahr fertiggestellt – diesmal mit einem Stahlskelett, denn in Nihonbashi ist die Brandgefahr noch immer hoch. Außerdem ist er einer der wahrscheinlich wenigen Schreine mit Aufzug, unter ihm befindet sich ein öffentlicher Fahrradabstellplatz.

Ich selbst mag ältere Schreine lieber, sie haben irgendwie mehr Charakter. Wenn ich einen betrete, stelle ich mir gern vor, wie die Umgebung wohl damals ausgesehen hat und was für Leute ihn besucht haben. Egal wie viele Gebäude neu errichtet werden, einen Schrein reißt man nicht einfach ab. Er wird vielleicht erneuert, oder etwas wird hinzugefügt – aber letztendlich bleibt er, während sich um ihn herum alles verändert.

(c) 福徳神社 (wahrscheinlich), rechts oben im mittleren Teil sieht man den Schrein.

Die Schreine und Tempel in der Nähe unseres Wohnortes gab es schon, als das hier alles noch Reisfelder waren. Wer weiß, wie viele Kinder dort zum お宮参り (Omiya-mairi; das Vorstellen eines Neugeborenen vor den Göttern) gebracht wurden und ihr 七五三 (Shichi-go-san; Schreinbesuche mit drei und fünf (Jungs) bzw. drei und sieben Jahren (Mädchen) dort abgehalten haben. Überhaupt, wie viele Leute dort schon gebetet haben, wie viele Leute in etwa dasselbe gesehen haben wie man selbst. Da fühlt man sich doch gleich ein wenig kleiner.

Bin ich noch gut angepasster Ausländer oder schon Rassist?

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Meine Schwester und ich bei meiner Hochzeit.

Am Samstag fiel mir ein Kommentar unter dem Foto einer deutschen Bekannten auf Instagram auf.

“This is some culture appropriation shit.”

Was hatte meine Bekannte getan? Einen Kimono getragen. Einen sehr modernen, sehr coolen Kimono. Aber erst einmal ein bisschen Hintergrund.

Was ist Cultural Appropriation?

Der Begriff kommt aus Amerika, weswegen er am einfachsten an amerikanischen Beispielen zu erklären ist. Wenn in Amerika, mit der dominanten amerikanischen Kultur, ein Mitglied dieser dominanten Kultur Teile einer historisch unterdrückten Minderheitskultur (black culture, native American culture, …) kopiert, ohne die kulturelle Bedeutsamkeit des Kopierten zu verstehen oder die für Mitglieder der Minderheitskultur eng verknüpfte Unterdrückung erleben zu müssen, ist das Cultural Appropriation.

Wenn z.B. ein weißer Amerikaner ein Warbonnet (die Federhaube der nordamerikanischen Indianer) aus Spaß oder um cool zu wirken trägt, eignet er sich ein Objekt mit großem Stellenwert in der unterdrückten Herkunftskultur an, versteht den Stellenwert höchstwahrscheinlich nicht, und lebt nicht in der Gewissheit dass seine Vorfahren von den weißen Siedlern verdrängt und abgeschlachtet wurden und die Echos der Geschichte in die Gegenwart reichen.

Was brauchen wir also, um etwas als “Cultural Appropriation” zu bezeichnen?

Jemanden, der sich ein Element einer unterdrückten Minderheitskultur aneignet, und der dieses Objekt in seiner Signifikanz nicht versteht und/oder es gegen den Willen der Ursprungskultur übernimmt.

So weit so gut. Meine Bekannte und ich, wir leben in Japan. Wir haben japanische Familie, japanische Freunde – und wir begehen japanische Rituale. Nicht, weil wir Japan so unglaublich toll und exotisch finden würden, oder wir unbedingt Japanisch sein wollen, sondern weil es die Kultur unseres neuen Heimatlands ist. In anderen Worten: Es ist die dominante Kultur und wir, als Mitglieder der Minderheitskultur, passen uns an. Das ist nicht “Cultural Appropriation” sondern Assimilation.

Wir begehen viele dieser Rituale, weil es von uns erwartet wird und weil wir ein Teil nicht nur unseres neuen Landes sondern vor allem unserer japanischen Familie sein wollen. Stellt euch vor, wir würden die japanische Kultur nicht annehmen: Wie arrogant und ignorant wäre das denn? Und apropos “Elemente einer Kultur in ihrer Signifikanz nicht verstehen”: Wir lernen von denen, die es wissen müssen – Japanern in Japan. Eben jene Japaner in Japan freuen sich übrigens riesig, wenn Nicht-Japaner ihre Kultur so sehr wertschätzen, dass sie sie selbst ausüben (Siehe: Als Ausländer Yukata tragen.) Wir haben also sogar die Erlaubnis der dominanten Kultur.

Wenn wir als Deutsche in Japan Kimono tragen, tragen wir ihn nicht als Kostüm, sondern korrekt und als Ausdruck unserer Verbundenheit zu unserer zweiten Kultur*. Und aus dem Grund, aus dem Japaner Kimono tragen: Sie sind einfach wunderschön. 🙂 Wir tragen kein eigenartiges ein bisschen japanisches, ein bisschen chinesisches, sehr sexualisiertes Kleidungsstück wie Katy Perry bei einer Performance 2013. Das war übrigens in Amerika ein Skandal – während der Großteil der Japaner sich nicht daran gestört hat.

* “… unserer ersten Fremdkultur” analog zur “ersten Fremdsprache”?

Japaner brauchen niemanden, der sich an ihrer Stelle aufregt. Ich brauch niemanden, der mich als “kulturlosen Mayo-weißen Rassisten” bezeichnet, weil ich an der Kultur meines neuen Heimatlandes teilhabe. Vor allem nicht, wenn ich von Japanern haufenweise Komplimente bekomme, wenn ich Yukata oder Kimono trage. Deren Meinung ist mir nämlich, im Gegensatz zu der einer Amerikanerin aus dem Internet, wichtig. 🙂

Kurz eingeschoben: Die wahren japanischen Toiletten.

Viele haben von den tollen japanischen Toiletten gehört. Unzählige Knöpfe, Bedienung per Smartphone, Elfenstaub.

Tatsächlich gibt es diese Toiletten. Japaner nennen sie nur nicht “japanische Toiletten”, nein, die sind “westlich”! Bei Toiletten unterscheidet man in Japan zwischen 洋式 (yô-shiki; westlich) und 和式 (wa-shiki; japanisch)*.

* Beide Begriffe werden nicht ausschließlich für Toiletten sondern für alles mögliche verwendet.

Aber wie sieht so eine japanische Toilette aus? Oben seht ihr eine Zeichnung. Es sind Hocktoiletten, oder auch “stinkende Löcher”. Wahrscheinlich gibt es irgendwo in Japan total saubere und nach Blumen duftende japanische Toiletten, aber die einzigen, die mir bisher begegnet sind, stanken erbärmlich. Durch die Hockhaltung landet wahrscheinlich auch nicht gerade ein unbeachtlicher Anteil des Urins nicht in der Toilette sondern auf den umliegenden Fliesen. Na vielen Dank. Für den Stuhlgang ist es aber angeblich natürlicher.

pakukdkslla_TP_VSo ist es kein Wunder, dass vor allem die jüngere Generation gern auf die japanischen Toiletten verzichtet. In vielen älteren öffentlichen Toiletten gibt es beides – japanische Toiletten und westliche. Es bildet sich oft eine Schlange, obwohl die japanischen Toiletten frei sind…

Ich versteh’s.

Die dominante Sprache.

Ich bin Deutsche. Sogar eine richtige Bio-Deutsche, mit Ostdeutschen Eltern* und komplett deutscher Schulbildung. Insgesamt habe ich etwa 20 Jahre in Deutschland gelebt, mit Freunden auf Deutsch geredet, Filme auf Deutsch gesehen und auf Deutsch gelesen. Natürlich nicht exklusiv, aber mein Alltag war wahrscheinlich 90% Deutsch.

* Ihr Wessis wisst gar nicht, was euch entgeht. Mann, damals in der DDR, da war die Welt noch heil. 😉

Ihr könnt euch sicher vorstellen, dass das jetzt etwas anders ist. Bis vor einigen Monaten hatte ich noch immer die beste deutsche Freundin, mit der ich einmal die Woche auf Deutsch schnattern konnte – sie hat mich dann aber für Frankfurt verlassen. 🙁 Ich schreibe auf diesem Blog sehr viel mehr Deutsch als mir im alltäglichen Leben über die Zunge rollt. Was nicht heißt, dass ich die Sprache in meinem Alltag groß vermissen würde, doch Dinge die man nicht verwendet rosten natürlich ein, selbst die eigene Muttersprache. Beim Schreiben geht das noch, ich habe schließlich Zeit zum Nachdenken und muss letztendlich nur auf meine eigenen Gedankengänge reagieren. Beim Sprechen bin ich mir manchmal unsicher, ob die Worte wirklich so zusammenpassen. Teilweise fehlen mir auch einfach die Worte, zumindest auf Deutsch.

Denn auch wenn ich mehrere Sprachen fließend spreche ist das Hirn schließlich kein Wörterbuch, manche Verbindungen sind in einer bestimmten Sprache stärker, und manchmal drängen sie meine Muttersprache an den Rand. Was für eine Erleichterung dann mit jemandem zu plaudern, der zumindest zwei der drei Sprachen spricht: Ausdruckstechnische Löcher in der einen Sprache lassen sich ganz hervorragend in der anderen stopfen. Dabei hilft, dass die meisten meiner japanischen Mitarbeiter sehr gutes Englisch sprechen.

Mein Alltag besteht zu 75% aus Japanisch, 22% Englisch und 3% Deutsch. Die 3% werden wahrscheinlich allein vom Blog ausgefüllt. Deutsch ist also absolute Minderheitssprache. Das hat durchaus komische Nebenwirkungen.

Wenn ich in einem Café oder ähnlichen bin, kann ich Japanisch wunderbar ausblenden, bei Englisch klappt es auch meist. Das ist Hintergrundrauschen. Doch was passiert, wenn plötzlich Leute in meiner Umgebung Deutsch reden? Mein Hirn verwandelt sich in eine kleine Bulldogge, jagt seinem eigenen Schwanz hinterher, springt in die Luft und kläfft. Ich höre unweigerlich zu. Nicht, weil Deutsche immer unglaublich spannende Dinge zu erzählen hätten oder weil ich den Grund für ihren miesepetrigen Gesichtsausdruck** dringend erfahren möchte.

Nein, meine Gehirnbulldogge ist der Meinung einen Freund gefunden zu haben. Jemanden so wie uns. Wenn wir dann mal in Deutschland sind, dreht meine Gehirnbulldogge zumindest die ersten Tage komplett durch. “Schau Claudia, jemand spricht Deutsch!!” “Noch jemand!” Ich kann mich tatsächlich in der Berliner Bahn, wenn sie denn fährt, nicht auf mein Buch konzentrieren, weil alle um mich herum Deutsch sprechen. Diese rücksichtslosen Berliner mal wieder. 😉

** Sorry, aber Deutsche schaffen es teils im 5-Sterne-Resort am weißen Strand so zu gucken, als wären sie grad in der Bahn zur Arbeit. Um 3 Uhr morgens. Im Nieselregen.

In meinem Kopf herrscht auch ohne Gehirnbulldogge geordnetes Sprachchaos. Deutsch nimmt dabei meist einen geringen Platz ein, selbst Englisch ist nicht die Nummer eins. Mir kommt tatsächlich Japanisch am leichtesten über die Lippen, obwohl mein Wortschatz begrenzt ist. Aber denke ich auf Japanisch? Keine Ahnung. Wahrscheinlich. Die eigenen Gedanken gehören zu den Dingen, die sich verändern, wenn man sie betrachtet. Möglicherweise ändert sich das, je nachdem in welcher Situation ich bin, welche Sprache ich verwende und worüber ich nachdenke. Tiefe philosophische Betrachtungen kann ich nämlich nicht auf Japanisch anstellen. Mein Innenleben wird aber sicher nicht so leicht wieder 90% Deutsch. Bin ich dann eigentlich noch Bio?

Was sprecht ihr für Sprachen und was für Auswirkungen hat das auf euer Leben? In welcher Sprache denkt ihr? 😉