Erstaunlich fortschrittlich: Homosexualität im alten Japan

Als ich vor einigen Monaten eine Ausstellung von Shunga (春画), erotischen Drucken aus dem alten Japan, besuchte, war ich über einige Dinge sehr verwundert. Wie immer, wenn ich mir etwas nicht erklären kann, recherchierte ich im Nachhinein und landete in der faszinierenden Welt der Sexualmoral im alten Japan.

Was Shunga besonders macht

Was mich zuerst sehr verwundert hat, war wie explizit Shunga-Bilder sind und in welcher Fülle sie erhalten sind. Wie viele sexuell explizite historische europäische Malereien kennt ihr? Nackte Körper gibt es zur Genüge, aber alles weitergehende wird meist nur angedeutet. Bei Shunga muss man nichts interpretieren, sie sind unmissverständlich.

Manche Shunga sind als Anleitungen zu verstehen, andere als Masturbationsvorlage und wieder andere sollen einfach nur absurd und komisch sein. Insgesamt decken sie einen Großteil der menschlichen Sexualität ab. Sie zeigen junge Menschen, alte Menschen, Prostituierte, Liebespaare, verschiedene Fetische, und manchmal tanzende Penisse.

Wenn das Christentum keinen Einfluss hat

Der simpelste Grund, warum Japan in seiner Darstellung von Sex historisch gesehen so anders war, als Europa, war das Fehlen des christlichen Glaubens. Im Christentum galt Sex ohne Fortpflanzungsabsicht, also einfach zum Spaß, als Sünde und war deswegen mit Scham besetzt.

Japan war nie ein christliches Land. Es gab nie eine Verteuflung von Sex, aus dem keine Kinder entstehen (können). Dementsprechend offen wird mit Sexualität selbst in den ältesten japanischen Schriften umgegangen. Dank dessen wissen wir heute ziemlich viel darüber, was die alten Japaner so im Bett angestellt haben.

Wo keine Männer sind, werden alle Frauen zu Lesben?

Wie in leider vielen Kulturen, gibt es nur wenige Schriften, die den Alltag der Frauen im alten Japan beleuchten. Obwohl es also mit Sicherheit lesbische Beziehungen gab, gibt es dazu kaum Überlieferungen.

Die Darstellung von lesbischem Sex in Shunga zeigt meist Szenen aus einem Bereich des Kaiserpalasts, zu dem kaum jemand Zutritt hatte – dem Ōoku (大奥). Das Ōoku war der Kindern und Frauen vorbehaltene Bereich der Burg Edo im alten Tokyo. Männern war der Zutritt verboten, und gerade das heizte die Fantasie der Maler an. Denn die Frauen, die ganz ohne Männer auskommen müssen, müssen ihre Gelüste ja anders befriedigen. Das erklärt auch, warum beim Sex zwischen Frauen im Shunga fast immer ein Umschnallpenis zu sehen ist: Es ist letztendlich nur eine Ersatzhandlung.

Männer glaubten offenbar damals wie heute, dass Frauen ohne sie nicht könnten.

Homosexualität als Kulturgut

Außerordentlich gut dokumentiert hingegen sind schwule Beziehungen zwischen Männern. Sowohl Liebesbriefe als auch eindeutige Tagebucheinträge sind in großer Zahl überliefert. Bei den meisten prominenten buddhistischen Mönchen, Adeligen und Kriegern, denen man in Geschichtsbüchern begnet, ist man auf der sicheren Seite, wenn man einfach davon ausgeht, dass sie bisexuell waren.

Über dieses Thema gibt es spannende Bücher, aber hier ein stark verkürzter und vereinfachter Abriss darüber, wie sich solche Beziehungen damals ausbreiteten.

Buddhistische Mönche lebten nur unter Männern in Tempeln. Ihnen waren sexuelle Beziehungen untersagt. Damals wurden Kinder und Jugendliche in Tempel geschickt, um sich Wissen anzueignen, und viele von ihnen gingen (mit Wissen der Eltern) sexuelle Beziehungen mit den Mönchen ein – heute würde man sagen, dass sie sexuell missbraucht wurden. Aufzeichnungen zufolge galten Kinder im Alter von 12 bis 16 Jahren als besonders geeignet. Aus heutiger Sicht natürlich absolut unvertretbar, damals war es akzeptiert. Mit dem Glauben konnte es vereinbart werden, weil man ein Schlupfloch erfand: Die Jungen wurden kurzerhand zu Inkarnationen des Buddhas des Mitgefühls, Kan’non Bosatsu (観音菩薩), Sex mit ihnen brachte die Mönche der Erleuchtung näher. Es gab aber auch viele Beziehungen, in denen beide erwachsen waren.

Im 12. Jahrhundert hatte sich die komplette Akzeptanz von homosexuellen Beziehungen auch im Adel verbreitet und wurde fleißig genutzt, um Netzwerke zu spinnen. Es gibt Überlieferungen darüber, wie einzelne Personen Beziehungen mit fünf oder mehr anderen Adligen eingingen, um politische Vorteile zu genießen. Dass in Japan Vielweiberei an der Tagesordnung war, erklärt vielleicht ein wenig, warum solche Verflechtungen möglich und akzeptiert waren.

Im 14. Jahrhundert erstarkte die Kriegerklasse, die Samurai. Diese waren bekannt für ihren Ehrenkodex und ihre strengen Hierarchien – die direkt zu Beziehungen zwischen Männern führten, zumal Frauen nicht mit aufs Schlachtfeld genommen wurden. In den allermeisten Fällen handelte es sich um Beziehungen zwischen Männern ungleichen Ranges und oft war die Erwartung, dass der untergebene Partner für den rankhöheren Partner sterben würde.

In allen drei Gruppen spielten auch Schauspieler und Tänzer eine große Rolle. Meist bestand eine direkte Verbindung zwischen diesen Künstlern und Prostitution, übrigens sowohl an Männer als auch Frauen. In einigen Fällen wurden diese Künstler direkt von ihrer Tanz- oder Schauspielgruppe in die Betten der Mönche, Adligen und Samurai rekrutiert.

Natürlich gab es in all diesen Gruppen auch Beziehungen zwischen gleichrangingen Männern, aber in den meisten Fällen war die Beziehung ungleich.

Was man nicht vergessen darf: Von Samurai und Adeligen wurde immer noch erwartet, dass sie Nachkommen produzieren. Sofern sie dieser Pflicht nachkamen, war es egal, ob sie außerdem einem, zwei oder zehn Männern den Hof machten.

Es gibt aber auch Überlieferungen von Männern, die an Frauen so gar nichts finden konnten, und dadurch Machtkämpfe auslösten. Wenn es keinen direkten Erben gibt, kann man schon einmal einen Krieg anzetteln um die Nachfolge zu klären.

Wer hat’s versaut?

Wenn Homosexualität in Japan über eintausend Jahre überhaupt kein Problem war, warum ist das Land jetzt nicht noch immer an vordester Front dabei, wenn es um Diversität geht?

Es tut mir leid, aber daran sind wohl die Europäer zumindest ein bisschen schuld.

Japan hatte sich zwischen 1639 und 1854 vom Rest der Welt abgeschottet. Ein Grund war, dass man befürchtete, Missionare und eine Ausbreitung des christlichen Glaubens seien nur eine Vorhut einer Vereinahmung durch Spanien oder Portugal. Tatsächlich gibt es Überlieferungen vom Schock europäischer Missionare ob der offen gelebten Sexualvorstellungen der Japaner. Außerdem überliefert ist die Reaktion der Japaner auf die Moralvorstellungen der Missionare: Sie lachten sie auf der Straße aus. Für die alten Japaner war es komplett absurd, dass jemand auf die Idee kommen würde, Homosexualität und Vielweiberei zu verteufeln. Dank der Schließung des Landes hatten die Japaner vorerst zweihundert Jahre ihre Ruhe von solchem Quatsch.

Nach der Öffnung des Landes musste Japan feststellen, dass es in vielen Bereichen zurückhing und holte in Windeseile auf. Man wollte sich so schnell wie möglich als modernes Land positionieren. Was machten moderne Länder damals? Sie kriminalisierten Homosexualität. Japan zog nach und stellte Analsex unter Strafe. Dieses Gesetz bestand lediglich für zehn Jahre, aber das und die damals sehr populäre westliche sexualwissenschaftliche Literatur, die Homosexualität als psychische Störung beschrieb, festigten ein negatives Bild, das noch immer nicht vollständig abgeschüttelt werden konnte.

Wenn Politiker heutzutage im Zusammenhang mit Homosexualität über traditionelle Werte reden, sprechen sie also von westlichen Werten, die vor etwas mehr als einhundert Jahren importiert wurden.


Natürlich kann das hier nur einen kurzen Abriss darstellen. Sowohl in Shunga als auch in der Sexualgeschichte Japans gibt es noch viele spannende Aspekte und Anekdoten. Aber am spannendsten bleibt für mich, dass die Menschen von damals sich in den grundlegendsten Dingen nicht so sehr von uns unterscheiden. 🙂

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert