Ende Oktober verbrachte unser Sohn eine Nacht bei seinen Großeltern und wir fuhren ins gelobte Land: Nach Ihatov.
Klingt nicht sehr japanisch? Ihatov ist ein utopischer Sehnsuchtsort, den der japanische Schriftsteller Miyazawa Kenji (宮沢賢治) auf Grundlage der Präfektur Iwate (岩手県 Iwate-ken) erschuf. Miyazawa liebte seine Heimat und als einer der bekanntesten Söhne der Präfektur ist er überall präsent.
Das beginnt bereits am Bahnhof Morioka, dort fährt die Ginga Tetsudō (銀河鉄道) oder Milchstraßeneisenbahn. Der Name stammt aus der berühmtesten Geschichte Miyazawas, “Eine Nacht in der Milchstraßenbahn” (銀河鉄道の夜 Ginga Tetsudō no Yoru), einem Märchen, das in den 1980er-Jahren als Anime adaptiert wurde, wobei Katzen die Hauptrollen spielten. Außerdem kennen einige den Namen vielleicht von dem Kult-Manga und -Anime “Galaxy Express 999” (銀河鉄道999 Ginga Tetsudō 999).
Wir brachten erst einmal unseren Koffer ins Hotel und gingen dann Soba, japanische Buchweizennudeln, essen. Morioka ist für die Variante Wanko Soba bekannt. Dabei werden die Sobanudeln von der Bedienung immer weiter in kleinen Portionen sofort nachgereicht, bis man es irgendwann schafft, die Essschale abzudecken. Obwohl wir an einem Freitag kurz nach Ladenöffnung dort waren, waren die Wanko Soba-Plätze bereits belegt und so begnügten wir uns mit ganz normalen Soba. Kein Problem, die lieben wir nämlich auch. 🙂
Das Schöne an Morioka ist, dass die Stadt sehr kompakt ist. Man kann eigentlich alle Wege laufen, Busse fahren auch. Leider ist der Nahverkehr in die umliegenden Orte nicht ganz so eng getaktet wie in Tokyo, weswegen wir für unser einziges Ausflugsziel außerhalb Moriokas lieber ein Auto mieteten.
Die Koiwai-Farm (小岩井農場 Koiwai Nōjō) ist ein Touristenbauernhof, der zur berühmten Molkerei gehört. Auf dem Gelände kann man Tiere sehen, basteln, die Natur genießen und vor allem etwas über die Geschichte der Molkerei lernen.
Die alten Gebäude der Molkerei, um die Jahrhundertwende erbaut, sind noch immer in Betrieb. Damals waren sie reinstes Hightech, heute – nicht mehr so ganz. Als Teil der Meiji-Restoration, die die 200-jährige Isolation Japans beendete, wurde das Land mit aller Macht in die Moderne gezerrt. Auch als Zeichen dieses gesellschaftlichen Wandels, der sich auch in den Essgewohnheiten widerspiegelte, ist die alte Farm sehr spannend.
Und, weil ich euch ja vorgewarnt hatte, dass Miyazawa Kenji wirklich überall auftaucht: Er liebte den Bauernhof und widmete ihm in seiner bekanntesten Gedichtsammlung, “Frühling und Asura” (春と修羅 Haru to Shura) ein ganzes Kapitel. Ein Auszug aus diesem Gedicht steht dann auch auf einer Tafel im hinteren Teil des historischen Bereichs.
すみやかなすみやかな万法流転のなかに
小岩井のきれいな野はらや牧場の標本が
いかにも確かに継起するといふことが
どんなに新鮮な奇蹟だらう
Inmitten des fließenden Wandels aller Dinge,
ist es doch ein so frisches Wunder,
dass die schönen Wiesen und Weiden von Koiwai
so gewiss und klar bestehen.
Für Miyazawa spiegelte die Molkerei die Koexistenz zwischen Natur und Mensch wider und er besuchte sie häufig.
Einer der Gründer der Farm war übrigens Iwasaki Hisaya (岩崎久彌), Sohn des Gründers von Mitsubishi, dessen Anwesen man in Tokyo besuchen kann.
Mehr: Adelige Residenz im modernen Tokyo: Das Kyū-Iwasaki-tei
Wir hatten noch nicht genug von Miyazawa und machten zurück in Morioka einen Abstecher zur Kōgensha (光原社). Dieser Verlag veröffentlichte damals die Geschichtensammlung “Das Restaurant mit den vielen Sonderwünschen” (注文の多い料理店 Chūmon no ōi Ryōriten) und heute kann man sich auf dem Gelände Originalmanuskripte Miyazawas angucken. Außerdem gibt es Läden mit Handwerkskunst, ein Café (das leider schon geschlossen hatte) und eine Gallerie.
Wir liefen zurück zum Hotel um uns wärmer anzuziehen – Iwate ist wirklich kälter als Tokyo – und gingen essen. Die Baeren-Brauerei ist eine kleine Craftbrauerei in Iwate, die auch einige Restaurants betreibt. Dort gibt es die verschiedensten Gerichte mit einem kleinen Kniff. Wir hatten auf jeden Fall unsere Mühe, uns zu entscheiden. 🙂 Als wir dort waren, gab es verschiedene Speisen mit Wild.
Ein wenig angeheitert ließen wir den Abend beim Karaoke ausklingen, wo wir das letzte Mal an dem Tag auf Miyazawa Kenji stießen: Im Lied “Spinning Globe” (地球儀 Chikyūgi) von Yonezu Kenji.
ああ 小さな自分の 正しい願いからはじまるもの
Ah, all das, was aus dem aufrichtigen Wunsch des kleinen Selbst entspringt
Der literarisch Interessierte weiß natürlich: Das kommt aus dem Miyazawa Kenji-Gedicht über die Koiwai-Farm:
ちいさな自分を劃ることのできない
この不可思議な大きな心象宙宇のなかで
もしも正しいねがひに燃えて
じぶんとひとと万象といつしよに
至上福しにいたらうとする
Möge ich selbst, zusammen mit den Menschen und allen Dingen,
inmitten dieses mysteriösen und grenzenlosen Universums der geistigen Bilder,
in welchem ich mein kleines Selbst nicht abgrenzen kann,
erfüllt von einem wahrhaftigen Wunsch
die höchste Glückseligkeit erreichen
Ach, wie schön ist Ihatov.
So ein schönes Gedicht