Einmal im Jahr haben wir 参観日 (Sankanbi). An dem Tag kommen die Eltern für den halben Tag vorbei und schauen sich den Unterricht an. Wie gut das funktioniert, kann sich glaube ich jeder denken. Zur Erinnerung: Die Kinder in meiner Klasse sind zwei bis drei Jahre alt, etwa die Hälfte kommt nur an drei Tagen die Woche. Bei den meisten dieser Kinder sind die Mütter zuhause und arbeiten wenn, dann nur stundenweise.
Wenn Mama nun also plötzlich bei uns auftaucht, ist alles vorbei. Da verändert sich dann blitzartig der Charakter einiger Kinder und generell herrscht eine dermaßene Unruhe, dass normaler Unterricht gar nicht mehr zu bewerkstelligen ist. Letzten Freitag war es soweit, diesmal war meine Idee, zusammen mit den Eltern zu basteln. Ein Schmetterling sollte es werden, die Kinder malen aus, die Eltern schneiden und kleben.
Bei solchen Aktivitäten merkt man dann sehr schnell, warum einige Kinder so anstrengend sind, wie sie sind.
Beispiel 1: Claudia gibt Farben vor, mit denen der Schmetterling angemalt werden darf. Alles außer Schwarz und Braun ist Ok*. Das Mädchen geht trotzdem mit dem schwarzen Wachsmalstift auf’s Papier los, Papa findet’s total lustig und hilft fleißig mit. Genau dieses Kind hört im Unterricht auch absolut nicht zu und hält sich nicht an Regeln.
* Kleine Kinder produzieren mit dunklen Farben selten schöne Malereien.
Beispiel 2: Nachdem der Schmetterling angemalt ist, soll er ausgeschnitten werden. Wir sagen auf Englisch und Japanisch an, dass die Kinder die Scheren nicht in die Hände bekommen sollen. Als ich durch die Reihen gucke, sehe ich plötzlich, dass ein kleiner Junge eine Schere in der Hand hält. Als ich näherkomme, nimmt Mama die ihm ganz schnell ab, woraufhin der Junge anfängt zu schreien und sich auf den Boden zu werfen. Letztendlich schneide ich den Schmetterling aus, weil Mama zu sehr mit dem Jungen beschäftigt ist. Vorher hatte er das Blatt Papier auch schon zusammengeknüllt und auf den Boden geworfen, wo Mama es erstmal liegen ließ. Genau dieser Junge wirft sich auch bei uns regelmäßig auf den Boden wenn er etwas nicht bekommt (was bei uns natürlich nichts bringt) und macht generell nichts.
Nun habe ich natürlich in meinem Leben inzwischen mehr Kontakt mit japanischen als mit deutschen Eltern gehabt und kann deswegen nicht behaupten, dass deutsche Eltern irgendwie besser wären. Mir fällt nur immer wieder auf, dass die Kinder hier absolut alles machen können ohne mal zurückgepfiffen zu werden. Wenn ein Kind schreiend durch die Bahn rennt darf man nicht darauf zählen, dass die Eltern etwas sagen. Die haben teils eh schon aufgegeben, da wird nicht mal mehr etwas gesagt, wenn das Kind die Eltern haut. Bloß keinen Streit mit den Kindern.
Selbiges gilt dafür, was den Kindern abverlangt wird. Bei uns kommen Kinder auf dem Arm von Mama zu uns und bekommen am Eingang die Schuhe an- und ausgezogen. Wenn ein Kind absolut nicht zu Mittag isst, und wir mal nachfragen, wie das zuhause läuft: “Ja, also zuhause füttern wir sie noch.” Manchmal haben wir vor allem bei neuen Kindern das Problem, dass die jedwede Mitarbeit komplett verweigern. Lieber auf den Boden schmeißen und weinen, statt benutztes Besteck und Geschirr wieder einzupacken.** Wenn man nur lang genug so tut als würde man weinen***, rettet einen bestimmt irgendjemand. Funktioniert ja auch zuhause.
** Unsere Kinder bringen Brotbüchse, Suppenbecher, Besteck und Schürze von zuhause mit.
*** Keine Tränen, nur Gebrüll.
Wir sind dann die, die diese Kinder für die Schule fit machen sollen. Spaß und Freude.